Literaturnobelpreis 1993: Toni Morrison

Literaturnobelpreis 1993: Toni Morrison
Literaturnobelpreis 1993: Toni Morrison
 
Die amerikanische Schriftstellerin erhielt den Preis für ihre durch visionäre Kraft und poetische Prägnanz gekennzeichnete literarische Darstellung einer wichtigen Seite der US-Gesellschaft.
 
 
Toni Morrison (eigentlich Chloe Anthony Wofford), * Lorain (Ohio) 18. 2. 1931; Studium an der Howard University und an der Cornell University, 1955 Abschluss, anschließend Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, 1965-83 Lektorin beim Verlag Random House in New York, seit 1976 Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, seit 1989 Professorin an der Princeton University (New Jersey).
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Entscheidung des Nobelkomitees für Toni Morrison musste der farbigen Autorin nur gerecht erscheinen, denn ohne Schwarze, so gab sie einmal zu Protokoll, wären die Vereinigten Staaten der Balkanisierung anheim gefallen. Die Immigranten aus den verschiedenen Ländern Europas hätten einander die Kehle durchgeschnitten. Erst durch die gemeinsame Verachtung der schwarzen Bevölkerung im Bewusstsein, weiß zu sein, hätten sich die weißen Einwanderer als Amerikaner fühlen und eine Nation bilden können. Die Leistung der Afroamerikaner für den Aufbau Amerikas musste dabei verdrängt werden. Mit ihren Büchern will Toni Morrison ihnen eine poetische Stimme verleihen und ihnen ihre Geschichte als integralen Bestandteil der amerikanischen Geschichte zurückgeben.
 
Darum hatten sich vor ihr zwar schon andere bemüht, Alex Haley etwa mit seinem Publikumserfolg »Roots«. Doch erst mit der sprachlichen Ausdruckskraft, der Intensität der Bilder und der formalen Meisterschaft von Toni Morrisons Prosa erreichte die afroamerikanische Literatur ein Niveau, das ihr einen bleibenden Rang sichert. Weil sie Personen und Situationen weniger beschreibt als durch eine ausdrucksstarke, charakteristische Sprache für sich selbst sprechen lässt, den Leser über verschiedene Blickwinkel an das Geschehen hinführt und Handlung und Personen in eine kunstvolle, komplexe Struktur einwebt, hat man Morrison mit William Faulkner (Nobelpreis 1949) verglichen, den viele für den bedeutendsten Romancier der amerikanischen Moderne halten.
 
Obwohl die Lektüre der komplex strukturierten Romane Toni Morrisons hohe Ansprüche stellt, ist sie in ihrer Heimat außerordentlich populär und angesehen. Insbesondere für schwarze Frauen in den USA bietet sie sich als zeitgemäße Identifikationsfigur an. Toni Morrison charakterisierte sich selbst einmal als Kind der großen Depression, die die Vereinigten Staaten heimsuchte, als sie in einer Stahlgegend bei Cleveland (Ohio) in ärmlichen Verhältnissen geboren wurde. Ihr Vater habe »jedem Wort und jeder Geste eines jeden Weißen« misstraut, sie sei in einem grundsätzlich rassistischen Haushalt aufgewachsen und habe als Kind alle Weißen verachtet. Doch auch wenn sich Toni Morrison entschieden hat, schwarze Literatur für schwarze Menschen zu machen, und die Position ihres Vaters in den Ansichten ihrer Romanfiguren widerhallt, vermeidet sie allzu schlichte Klischees.
 
1969 erschien Toni Morrisons erster Roman, »Sehr blaue Augen«, die Geschichte eines schwarzen Mädchens, das von der herrschenden Schönheitsnorm der weißen Mittelschicht in Selbsthass und schließlich in den Wahnsinn getrieben wird. Die in ebenso präzise wie poetische Prosa gefasste Kritik an gesellschaftlichen Wertordnungen, die auf physischen Unterschieden beruhen, wurde recht günstig aufgenommen und begründete Morrisons Ruf als Autorität für Angelegenheiten des schwarzen Amerika. In »Sula« (1974) stehen zwei Frauen im Mittelpunkt, die in einer schwarzen Gemeinschaft verschiedene Wege einschlagen: Während sich die eine anpasst, lehnt sich die andere, Sula, gegen alle Konventionen auf, seien sie nun von der weißen oder der schwarzen Gesellschaft aufgestellt. Doch Sulas Freiheitsdrang verirrt sich in manischer Selbstbezogenheit, die totale Emanzipation führt sich in zwanghafter Besessenheit selbst ad absurdum. Morrisons literarische Glaubwürdigkeit rührt daher, dass sie die Mehrdeutigkeit der menschlichen Verhältnisse nie aus den Augen verliert. Während »Sula« die Geschichte einer kulturellen Entfremdung erzählt, handelt »Salomons Lied« (1977) von einem Angehörigen der schwarzen Mittelschicht, der sich im Süden der USA auf die Suche nach den Spuren seiner Vorfahren macht und dabei ein neues Verständnis von sich selbst gewinnt. Die Mechanismen von Zugehörigkeit und Ausschluss und ihre Folgen für das individuelle Selbstgefühl sind in »Teerbaby« (1981) behandelt. Der Roman erzählt die Geschichte eines schwarzen Models, das durch ihren beruflichen Erfolg von der Welt ihrer Herkunft entfremdet wird, ohne dass sie in der weißen Oberschicht, mit der sie verkehrt, eine soziale und emotionale Heimat finden könnte.
 
 Hüterin der afroamerikanischen Identität
 
Als bedeutendster Roman von Toni Morrison gilt »Menschenkind« (1987). In seinem Zentrum steht die Geschichte der entflohenen Sklavin Sethe, die eines ihrer Babys tötet, um es nicht in die Hände ihrer Verfolger fallen zu lassen. Schließlich gewinnt sie mit ihren anderen Kindern die Freiheit, doch das Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnt, wird von dem Geist des ermordeten Babys heimgesucht. Erst als Paul D, ein alter Freund, auftaucht, hat es mit dem Spuk ein Ende. Jahre später kommt ein Mädchen von rätselhafter Herkunft ins Haus und bringt den Seelenhaushalt der Bewohner in solche Unordnung, dass die Hausgemeinschaft zerfällt. Der Roman macht deutlich, dass das individuelle Leben ebenso wie die kollektive Geschichte der schwarzen Bevölkerung auch noch in Freiheit von den Traumata der Vergangenheit beherrscht wird. Die aufgehobene Trennung der Sphären von Leben und Tod, Realität und Geisterwelt verweist auch auf die afrikanischen Wurzeln schwarzer Kultur. Für Toni Morrison sind das afrikanische Erbe ebenso wie die Sklavenzeit und der Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung integrale Bestandteile afroamerikanischer Identität.
 
 Starke Frauen
 
Toni Morrison wird gern als feministische Autorin klassifiziert, weil ihre Bücher von eindrucksvollen Frauengestalten bevölkert sind. In »Menschenkind« stellt Baby Suggs, Sethes Schwiegermutter, das Ideal einer afroamerikanischen Frau dar: lebensklug und mit großem Charisma gesegnet hält sie die Familie und die Gemeinschaft zusammen. Morrison ist davon überzeugt, dass sich das Leben des Einzelnen nur in der Gemeinschaft erfüllen kann. In »Menschenkind« verhindert die schwarze Gemeinde des Orts, dass Sethe durch die Konfrontation mit dem unheimlichen Gast im Wahnsinn versinkt. Aber auch schwarze Solidarität ist nichts Selbstverständliches. Die Frage, ob das Paradies nur auf Kosten des Ausschlusses anderer zu haben ist, war der Anlass für den Roman »Paradies« (1998). Er erzählt, wie in einer lange Zeit geradezu paradiesisch heilen, schwarzen Gemeinde plötzlich Konflikte aufbrechen, die sich schließlich in Hass und Gewalt entladen. Der Umschlag von leidenschaftlicher Liebe in tödliche Gewalt ist auch das Thema von »Jazz« (1992), einer Geschichte im Harlem der 1920er-Jahre, erzählt in einem dem Jazz nachempfundenen Rhythmus.
 
Heute hat Toni Morrison eine große Lesergemeinde auch außerhalb ihrer ursprünglichen Zielgruppe und ihrer Heimat gewonnen, denn ihre Bücher greifen Fragen auf, die jeden bewegen: Was verlangt das Leben vom Einzelnen, wie kann er sein Leben selbst bestimmen und welche Rolle spielt die Liebe dabei, welche die Gemeinschaft und wie wirken Ausschlussmechanismen und Gewalt? Toni Morrisons glänzender Stil, ihr Sinn für packende Themen sowie ihr überzeugendes Auftreten als literarische Repräsentantin des schwarzen Amerika werden dafür sorgen, dass sie auch noch im 21. Jahrhundert ihr Publikum findet.
 
J. Zwick

Universal-Lexikon. 2012.

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